Droht Äthiopien eine Zerreißprobe?

In den letzten Wochen sind in Äthiopien fast 100 Menschen bei Protesten ums Leben gekommen. Alleine in der Hauptstadt Addis Abeba wurden mehr als 400 Menschen festgenommen. Auf einer Studienreise der Stiftung Dialog und Bildung in das Land konnte ich Eindrücke von der Situation im Land gewinnen.

Es ist erst wenige Wochen her. Das Nobelkomitee hat den äthiopischen Regierungschef Abiy Ahmed Ali ausgezeichnet. Den Nobelpreis erhielt er für die Friedenspolitik gegenüber dem Nachbarland Eritrea. Es war nicht unverdient: Im Juli 2018 hatten Äthiopien und Eritrea einen Friedensvertrag unterzeichnet, der den 20 Jahre dauernden Konflikt zwischen den Ländern beendete, bei dem Zehntausende ums Leben kamen.

Als Abiy Ahmed im April 2018 zum Ministerpräsidenten gewählt wurde, rechnete niemand mit einem Umbruch. Der Vielvölkerstaat wurde immer autoritär geführt. Die Macht lag bei einer einzigen ethnischen Minderheit. Oppositionsarbeit, Meinungs- und Pressefreiheit gab es nur eingeschränkt. Doch der 43-jährige Abiy hat für Aufbruchsstimmung gesorgt. Er ließ politische Gefangene frei, ließ die Opposition ihre Arbeit machen, liberalisierte die Wirtschaft und beendete den Ausnahmezustand. Vor kurzem ließ er 354 Millionen Bäume pflanzen. Damit wollte er einen Neuanfang markieren.

Der vielleicht wichtigste Akteur der panafrikanischen Bewegung, der ghanaische Politiker Kwame Nkrumah, sagte am 25. Mai 1963 in Addis Abeba: “Ethiopia shall stretch forth her hands unto God, Africa must unite”. Seine goldene Statue vor dem Zentrum der African Union erinnert an diesen Satz. Für Nkrumah war klar, dass gerade Äthiopien, also das einzige Land Afrikas, das noch nie Kolonie war, eine große Rolle für den Kontinent spielen würde.

Äthiopien wird auch als „Wiege der Menschheit“ bezeichnet: Es war offensichtlich bereits 3,2 Millionen Jahre vor unserer Zeitrechnung besiedelt. Der Skelettfund von Lucy belegt dies. Das Land am Horn von Afrika blickt zudem auf eine Jahrtausende alte Geschichte zurück.

Doch diese Rolle wird Äthiopien nur spielen können, wenn es im Land Stabilität gibt. Äthiopien ist eine demokratische Bundesrepublik, bestehend aus 12 Bundesstaaten und hat etwa 105,4 Mio. Einwohner. Mehr als 100 verschiedene Ethnien machen Äthiopien zum Vielvölkerstaat. Neben der Landessprache Amharisch gibt es mehr als 70 anerkannte Regionalsprachen. Die äthiopische Bevölkerung ist in der Regel sehr religiös. Die religiöse Zugehörigkeit ist so vielfältig wie die ethnische. Die beiden größten Glaubensgemeinschaften sind die äthiopisch-orthodoxen Christen (43%) und die sunnitischen Muslime (34 %). Daneben gibt es Katholiken, Angehörige der äthiopisch-evangelischen Kirche, Juden, Hindus, Sikhs und Anhänger von Naturreligionen. Mehr als 70 Prozent der Bevölkerung sind jünger als 30, fast die Hälfte jünger als 15 Jahre alt. Rund ein Drittel der Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze. Das sind große Herausforderungen.

Abiy ist sich diesen bewusst. Schon vor etwa sechs Monaten hat er deshalb eine Kommission für Frieden und Versöhnung auf die Beine gestellt. Die Regierung spricht jetzt mit den verschiedenen Gruppen, um das Land zu befrieden. Für Abiy ist klar: Einen anderen Weg als den Dialog gibt es nicht.

Auch die Hizmet-Bewegung versucht einen Beitrag zu leisten. Über Schulen, medizinische und caritative Einrichtungen, sowie durch Entwicklungsprojekte versuchen die Hizmet-Engagierten, im Dienst aller zu stehen und den Frieden mit aufzubauen.

Welchen Weg Abiy nun für Äthiopien wählen wird, ist noch ungewiss. Seine bisherige Versöhnungspolitik hat allerdings Hoffnungen geweckt. Nur wenn es ihm gelingt, die Konflikte im Land zu beenden, ohne dass es auseinanderbricht und er es schafft, Arbeitsplätze für die rund 105 Millionen, mehrheitlich jungen Äthiopier zu schaffen, wird er als gefeierter Friedensnobelpreisträger und als erfolgreicher äthiopischer Regierungschef in die Geschichte eingehen.

 

Ercan Karakoyun

Seit der Gründung der Stiftung Dialog und Bildung im November 2013 bin ich ihr Vorsitzender. Ich wurde am 23.12.1980 in Schwerte geboren und habe dort bis zu meinem Abitur gelebt. Im Rahmen eines Stipendiums der Friedrich-Ebert-Stiftung habe ich mein Studium der Raumplanung an der Universität Dortmund mit dem Schwerpunkt Stadtsoziologie abgeschlossen. Ich bin Gründungsmitglied des Forums für Interkulturellen Dialog (FID) e.V. Berlin und war dessen Geschäftsführender Vorsitzender. Ich bin Mitglied im Kuratorium des Bet- und Lehrhauses am Petriplatz, Mitglied im publizistischem Beirat der Zeitschrift “Die Fontäne”, Kolumnist des Portals dtj-online.de, Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik und der Deutschen Gesellschaft für Soziologie.
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