Antisemitismus: Die importierte Ignoranz

Antisemitismus ist keine Frage von Nationalität oder Religion, sondern eine der Bildung / Nicht „die Deutschen“ oder „die Muslime“ sind antisemitisch, sondern die Ungebildeten. Ein Meinungsbeitrag von Ercan Karakoyun.

Es ist mehr als besorgniserregend: Aktuelle Studien und Statistiken zeigen einen wachsenden Antisemitismus. Diesem Narrativ jedenfalls folgen überwiegend die Medienberichte der letzten Monate und Jahre. Es gibt Ereignisse, die solche Schlüsse nahelegen und nachhaltig im kollektiven Gedächtnis bleiben, zum Beispiel der Angriff auf zwei Männer mit Kippa durch eine Gruppe arabisch sprechende Männer im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg im April 2018. Und es gibt einprägsame Medienskandale, etwa die Verleihung des Echo-Musikpreises an die Rapper Kollegah und Farid Bang, die in ihren Texten Auschwitz-Überlebende verhöhnen. Nirgends in Europa fühlen sich Juden durch antisemitische Übergriffe derart bedroht wie in Deutschland. 44 Prozent der Befragten denken laut einer Umfrage der EU-Grundrechteagentur inzwischen über Auswanderung nach. Für den Zentralrat der Juden ist klar, wer die Täter sind. 41 Prozent der von einem antisemitischen Vorfall Betroffenen gehen sicher von extremistischen Muslimen aus; 20 Prozent sahen eher Rechtsextreme als Täter. Weitere 16 Prozent lagen sich auf Linksextreme fest.

Antisemitismus: Kriminalstatistik zeigt einen deutlichen Trend

Die Kriminalstatistik sieht das anders. Die polizeilich erfassten antisemitischen Straftaten nahmen 2017 nur bedingt zu (1453 Delikte). Und mehr als 90 Prozent der Straftaten (1377 Delikte) seien rechtsextrem motiviert. Lediglich 25 Delikte wurden „religiös motivierten“ Antisemiten, meist muslimischen Fanatikern ausländischer oder deutscher Herkunft, zugeordnet. Der Statistik liege ein Zerrbild zugrunde, beklagen sich jedoch Deidre Berger und Fabian Weißbarth vom Berliner American Jewish Committee im Tagesspiegel. Eine Parole wie „Juden raus!“ werde fast ausschließlich dem Rechtsextremismus zugeordnet, obgleich man über die Hintergründe nur wenig wisse. Damit mögen sie sogar recht haben. Denn über die Hintergründe weiß man tatsächlich allzu wenig. Allerdings ist deswegen ihre These vom antisemitischen Islam genauso wenig zu belegen. 

Leichtfertigkeit bei Islam und Antisemitismus

Mit derselben Leichtfertigkeit wird auch ein Zusammenhang zwischen Antisemitismus und Flüchtlingen behauptet: „Wenn der Islam zu Deutschland gehört, dann auch sein Antisemitismus,“ tönte zum Beispiel Cicero-Chefredakteur Alexander Marguier im April 2018. Hier werden geradezu perfide, zwei – in Deutschland besonders emotional diskutierte Themen miteinander vermischt. Ein zeitlicher Zusammenhang wird in einen Kausalzuammenhang verwandelt – ohne jeden Beleg. Es passt halt gerade so gut.

Schon in der Flüchtlingsdebatte 2016 hatte sich das politische Magazin auf die Seite der Rechtspopulisten geschlagen, wie die taz diagnostizierte, und diese Position seither durch fast ausschließlich Merkel- und islamkritische Berichterstattung gefestigt. So kann man unter dem Deckmantel des politisch anerkannten „Anti-Antisemitismus“ unverhohlen die eigene Islamfeindlichkeit ausleben und zugleich dem politischen Gegner, der sich für Toleranz, Demokratie und Menschenrechte einsetzt, Naivität und Heuchelei vorwerfen. Auf diese Weise lässt sich das eigene politische Weltbild zementieren. Beweisen lässt es sich nicht.

„Importierter Antisemitismus“: Kampfbegriff der Anti-Islamisten

Das Horrorszenario des importierten muslimischen Antisemitismus entbehrt nicht der Phantasie, aber den Fakten. Eine im Sommer 2008 von der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft initiierte Studie des Londoner Pears Institute for the Study of Antisemitism zeigt nämlich keinen Anstieg von Antisemitismus durch Zuwanderung. Judenfeindliche Gesinnung in Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Belgien und den Niederlanden sei, wie die „Welt“ zusammenfasst, kein Merkmal der muslimischen Minderheit, sondern ein Problem, das der Mehrheitsbevölkerung entspringe.

Antisemitismus, so kann man in der Bundeszentrale für politische Bildung nachlesen, ist durchaus auch im christlichen Kontext verbreitet: Die von den Nazis beschworene „jüdische Weltverschwörung“ gehe zurück auf die systematische Verbreitung der „Brunnenvergifter“-Vorwürfe des 19. Jahrhunderts. Derartige Auffassungen erfuhren „ab den 1950er Jahren große Resonanz in der arabischen Welt, schien doch die Darstellung einer angeblichen jüdischen Verschwörung das Überleben des Staates Israel in den kriegerischen Auseinandersetzungen mit den dortigen Staaten zu erklären.“ 

Politisch motivierter Antisemitismus durch muslimische Despoten geschürt

Vor allem prominente Politiker wie Muammar al-Ghaddafi oder Gamal Abdel Nasser indoktrinierten die islamisch geprägte Welt mit ihrem politisch motivierten Antisemitismus. Verschwörungstheorien über eine jüdische Konspiration finden in der arabischen Welt auch gegenwärtig noch große Resonanz. Syrische und ägyptische Fernsehsender schickten Anfang des Jahrtausends ganze TV-Serien über den Äther, deren krude Inhalte hierzulande als Straftat geahndet würden. So überrascht es nicht, dass manche Geflüchtete nicht nur traumatische Erfahrungen, sondern auch ein verqueres Weltbild mitbringen.

Doch wer dafür ihre Religionszugehörigkeit verantwortlich macht, zieht voreilig oder mutwillig einen falschen Schluss. Das Schlagwort vom „Importierten Antisemitismus“ ist ein Kampfbegriff der Anti-Islamisten. Dieser wurde im April 2018 in einer offiziellen Pressemitteilung des stellvertretende AfD-Bundesvorsitzenden Georg Pazderski verbreitet und wird nicht zufällig gerade von zahlreichen AfD-Politikern besonders gern über Soziale Medien verbreitet.

Nicht der Islam ist antisemitisch, sondern die Politiker

Mit dem Schlagwort wird, vermutlich unwissend, der Titel eines Aufsatzes von Stefan Wild zitiert, der das Phänomen eines politisch instrumentalisierten Islam beschreibt – und genau deswegen ein deutliches Fragezeichen hinter den Terminus setzt. Der renommierte Orientalist weiß: Nicht der Islam ist antisemitisch, sondern die Politiker, die sich trotz ihrer menschenverachtenden und religionsfeindlichen Haltung als Muslime bezeichnen.

Religiöse Toleranz bzw. Intoleranz ist keine Frage der Religionen, sondern hat andere Ursachen. Wer in die Statistiken rund um das Thema Antisemitismus eintaucht, muss gar nicht allzu tief gehen, um einen viel evidenteren Zusammenhang zu erkennen – nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa, und ich behaupte auch im Rest der Welt.

Nur eine Minderheit weiß, dass Holocaust-Leugnung verboten ist

Im letzten Dezember hatte die Europäische Kommission eine Befragung der jüdischen Bevölkerung zu ihren Erfahrungen mit Antisemitismus durchführen lassen – und zwar in den 12 EU-Mitgliedstaaten, in denen über 96% der jüdischen EU-Bevölkerung leben. Das Ergebnis zeigte: Juden fühlen sich in der gesamten EU daran gehindert, ihre jüdische Identität offen und ohne Angst zu zeigen. Antisemitismus ist nicht nur EU-weit verbreitet, er gilt schon fast als normal. Durch diese Umfrage aufgeschreckt, gab die EU-Kommission sogleich eine Studie zu Antisemitismus in allen 28 EU-Staaten in Auftrag. Sie wurde im Dezember 2018 durchgeführt und jetzt im Januar veröffentlicht. Das Ergebnis zeigte erneut Erschreckendes.

Antisemitismus nur für Halbeuropa ein Problem

Die Hälfte der Europäer hält Antisemitismus für ein Problem im eigenen Land; doch sogar mehr als jeder Zweite tut dies in Schweden, England, Frankreich und Italien, in Belgien und den Niederlanden, in Österreich und eben auch in Deutschland. Man könnte einwenden, dass das Ausdruck der besonderen Sensibilität und Aufmerksamkeit für dieses Thema ist. Doch nur 3% der Befragten sind der Meinung, dass die Menschen in ihrem Land sehr gut über die Geschichte, Sitten und Gebräuche der jüdischen Bevölkerung in ihrem Land informiert sind. Lediglich sechs von zehn Europäern wissen, dass es in ihrem Land ein Gesetz gibt, das Anstiftung zu Gewalt oder Hass gegen jüdische Menschen unter Strafe stellt. 

Nur vier von zehn Europäer wissen, dass Holocaust-Leugnung in ihrem Land verboten ist. Ein knappes Drittel ist unsicher und ein gutes Drittel bestreitet die Existenz eines solchen Gesetzes. In Deutschland kennen immerhin zwei Drittel die korrekte Rechtslage, doch jeder vierte behauptet, es gäbe kein solches Gesetz und jeder achte ist unsicher. Was ist da los?

Wer das Bildungsangebot begrenzt, kann leichter herrschen

Nun, eins ist klar: Nicht „die Deutschen“, „die Franzosen“, „die Europäer“ oder „die Muslime“ sind antisemitisch, sondern die Ungebildeten. Wenn mehr als die Hälfte der 14- bis 16-jährigen Schüler in Deutschland nicht wissen, was Auschwitz-Birkenau ist, dann liegt das nicht an den zugewanderten Muslimen. Und wenn in syrischen Schulen kaum über den Holocaust gesprochen wird, dann ist daran nicht der Prophet Muhammad (sav) Schuld, sondern das Bildungssystem im heutigen Syrien. Solchem Wissensmangel zu begegnen ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Es ist demokratische Pflicht und Aufgabe der Politik, in der Gesamtbevölkerung für ausreichende Kenntnisse über die Grundlagen der Weltreligionen zu vermitteln. Dazu braucht es nicht nur Direktiven seitens der Regierenden, sondern auch zivilgesellschaftliches Engagement. 

In den arabischen Ländern ist der politische Einfluss auf die religiösen und politischen Überzeugungen leider bedenklich groß. Viele arabische Länder begrenzen bewusst die Bildungsangebote für große Teile der Bevölkerung. So lässt es sich leichter herrschen. Wenn nur ausgewählte Eliten zur Schule gehen, lassen sich politische Ideologien auch über religiöse Autoritäten wie Imame oder Prediger verbreiten. Sie sind oft Teil der korrupten politischen Elite und wirken aktiv an der Verbreitung antisemitischer Ressentiments mit. Ein simpler Desinformations-Schachzug, der leider umso erfolgreicher ist, je weniger Bildungschancen die Menschen haben. Das gilt in den arabischen Ländern genauso wie in Europa.

Religion kein Hindernis für Dialog

Dass Religion kein Hindernis sein muss für friedlichen Dialog, zeigt sich auch hierzulande viel zu selten. Im Juni 2018 beispielsweise setzten Juden und Muslime gemeinsam ein Zeichen gegen Antisemitismus und Islamfeindlichkeit: Gemeinsam radelten sie durch Berlin – auf Tandems. Imame und Rabbis, Nonnen und Musliminnen. 

Initiativen für interreligiösen Dialog gibt es nicht nur auf Seiten von Christen und Juden, sondern auch in der weltweiten Hizmet-Bewegung innerhalb des Islam. Allein in Deutschland engagieren sich hunderte Muslime in Hizmet-Dialogvereinen für einen Austausch zwischen den Weltreligionen. 2018 fanden dort fast 50 Veranstaltungen statt, die über 1000 Menschen wahrnahmen. Und 2019 – 70 Jahre nach der Wannseekonferenz, bei der die systematische Vernichtung der Juden in Deutschland beschlossen wurde – wollen die Vereine zu einem Schwerpunktjahr zu gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit machen.

Der Islam ist genauso mit Demokratie vereinbar wie Juden- und Christentum

Der Islam ist genauso mit Demokratie vereinbar wie Judentum und Christentum. Doch leider ist jede dieser Religionen schon für politische Interessen instrumentalisiert und als Argument für Völkermord und Krieg benutzt worden – genauso wie übrigens auch anti-religiöse Ideologien im Stalinismus oder Maoismus. Deswegen sollten wir nicht die Religionen bekämpfen, sondern das autoritäre und antidemokratische Denken und Handeln.

Ich bin stolz darauf ein deutscher Staatsbürger und gleichzeitig Muslim zu sein, denn beides – die deutsche Verfassung und der Koran – basieren auf einem humanistischen, gleichberechtigten und friedlichen Wertegerüst, für das ich engagiert einstehe. Nicht zuletzt verdanke ich diese Haltung meiner fundierten, demokratisch basierten Ausbildung an deutschen Schulen und Hochschulen. Sie ermöglicht mir, in dieser durch Pauschalisierungen und Vorurteile bestimmten Debatte zwischen Argument und Populismus, zwischen Fakt und Vorurteil zu differenzieren. 

Ich träume davon, dass alle Europäer nicht nur sicher wissen, dass es einen verbrecherischen Holocaust gab, sondern auch, dass Religionsfreiheit ein Menschenrecht ist und ein friedliches Miteinander die Basis unseres Zusammenlebens bildet. Deswegen werde ich mich weiterhin dafür engagieren, dass alle Menschen in Deutschland und ganz Europa eine fundierte Bildung bekommen – egal wo sie herkommen, egal an welchen Gott sie glauben.

Quelle: //dtj-online.de/antisemitismus-importierte-ignoranz/

Ercan Karakoyun

Seit der Gründung der Stiftung Dialog und Bildung im November 2013 bin ich ihr Vorsitzender. Ich wurde am 23.12.1980 in Schwerte geboren und habe dort bis zu meinem Abitur gelebt. Im Rahmen eines Stipendiums der Friedrich-Ebert-Stiftung habe ich mein Studium der Raumplanung an der Universität Dortmund mit dem Schwerpunkt Stadtsoziologie abgeschlossen. Ich bin Gründungsmitglied des Forums für Interkulturellen Dialog (FID) e.V. Berlin und war dessen Geschäftsführender Vorsitzender. Ich bin Mitglied im Kuratorium des Bet- und Lehrhauses am Petriplatz, Mitglied im publizistischem Beirat der Zeitschrift “Die Fontäne”, Kolumnist des Portals dtj-online.de, Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik und der Deutschen Gesellschaft für Soziologie.
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